Dr. med. Hellmut Lützner
Fachklinik für ernährungsabhängige Krankheiten, Kurpark-Klinik, D-88662 Überlingen.
Intensiv-Diätetik als interdiszplinäres Heilverfahren
Der Beitrag erschien in:
Ärztezeitschrift für Naturheilverfahren, Organ des Zentralverbandes der Ärzte für Naturheilverfahren e. V., Heft 9/1988, 29. Jahrg.
* Gestufte Diätetik am Beispiel eines Morbus Reiter
* Krankenschicksal
* Erste Erfahrungen mit Ernährung
* Diätetisches Heilverfahren
* Ernährungsumstellung zu Hause
* Etappenheilverfahren
* Schlußbemerkungen
Zusammenfassung: Es soll ein Eindruck vermittelt werden, was eingreifende Diätetik bei welchen Krankheiten zu leisten vermag. Sie verzichteten bewußt auf Datensammlungen und haben anhand des typischen Beispiels Machbares, Nachvollziehbares und die Bedingungen gezeigt, unter denen Bemerkenswertes nur zu erreichen ist. Diätetik hält sich nicht an Fachgebiete. Sie ist interdisziplinär-wirksam, weil sie jede Zelle, jedes Organ betrifft. Diätetik ist schließlich eines der Fundamente klassischer Naturheilverfahren. Die Methoden sind verschieden, ihre Erfolge gleichsinnig. Am Beispiel eines besonders ausgeprägten Falles von Morbus Reiter gezeigt, wie allein ernährungstherapeutische Basistherapie zur Heilung eines 25jährigen Leidens führt. Schlüsselwörter: Fastentherapie, Intensiv-Diätetik, M.Reiter, Fallbeispiel, Ernährung, |
Der Morbus Reiter ist einer jener bunten, undurchsichtigen Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises dessen Ursache man nicht kennt und der fast alle Fachrichtungen der Medizin beschäftigen kann. Seine 3 Kardinalsymptome sind bekannt: Polyarthritis, Urethritis und Konjunktivitis. In unserem Fall kommen Diagnosen hinzu wie Weichteilrheumatismus, schmerzhaftes Lymphödem beider Beine, rheumatische Myokardose mit hyperkinetischem Herzsyndrom, chronische Enterokolitis, und depressives Psychosyndrom. Niemand käme auf die Idee, irgend eine Diät könnte da etwas ausrichten. Daß Intensiv-Diätetik und konsequente Ernährungstherapie der Schlüssel zur Heilung eines 25 Jahre dauernden Leidens sein können, soll an diesem Beispiel gezeigt werden.<Krankenschicksal
Frau M. – 45 Jahre alt – war Krankenschwester und ist seit langem verheiratet. Als Kind hatte sie rezidivierende Kopfinfekte, Tonsillitiden und Bronchitiden. Die Erkrankung beginnt im 18. Lebensjahr mit einer Polyarthritis, die zunächst in hochfieberhaften Schüben verläuft; die urologische Symptomatik kommt im 22. Lj. hinzu; beides besonders akut im 28. Lebensjahr, was zur Diagnosestellung „Morbus Reiter“ führt. Die Konjunktivitis erscheint erst mit dem 30. Lj.; es kommt in den nächsten 5 Jahren zu Uveitis, Optikusatrophie und Glaskörpertrübung. Die Behandlung erfolgt mit Antibiotika, Antirheumatika, hochdosiert und langzeitig mit Cortison. Vom 38. bis 43. Lebensjahr leidet die Patientin zusätzlich an einem hyperkinetischen Herzsyndrom, das als Myokardbeteiligung bei M. Reiter gedeutet wird, an rezidivierenden Phlebitiden und Lymphangitiden und an einer nahezu unerträglichen Schmerzhaftigkeit aller Gewebe mit zunehmender Versteifungstendenz der Gelenke. Wen wundert’s, wenn Depressivität und Psycholabilität auffallen und die Patientin in den Geruch einer Psychopathin gerät. Monatelange Klinikaufenthalte, alle erdenklichen Behandlungsversuche bringen wenig oder nichts, so die Patientin; sie wird als „hoffnungsloser Fall“ entlassen. Die psychosozialen Folgebelastungen sind erheblich: Aufgabe des Berufes als Krankenschwester; der 3-Personenhaushalt wird nicht mehr bewältigt; Gehen gelingt nur noch 50 Meter mit Klappstühlchen zum Absitzen. Rollstuhlkandidatin.Erste Erfahrungen mit Ernährung
1970 wird durch mehr Ballaststoffe eine Obstipation behoben. 1979 bessert sich durch Haysche Trennkost die Verträglichkeit der Nahrung. 1985 gelingt eine Besserung des Allgemeinzustandes durch Umstellung der Ernährung auf Vollwertkost nach Bruker aber noch keine entscheidende Wendung des Leidens.Diätetisches Heilverfahren
1986 Fachklinik für ernährungsabhängige Krankheiten, 6 Wochen stationär. Erstes Fasten von 31 Tagen, anschließend 11 Tage erweiterte Frischkost; zusätzlich klassische Naturheilverfahren in milder Form und steigender Dosierung. Als besonders wichtig erweist sich die regelmäßige Entleerung des Dickdarmes von übelriechenden Kotmassen durch Einläufe. Erste Besserung nach 17 Fastentagen: Langsamer Verzicht auf Schmerzmittel; die Gehstrecke kann erweitert werden.
Die entscheidende Wende des Leidens geschieht zwischen dem 20. und 31. Fastentag. Die ungewöhnlich druckempfindliche Haut ist entstaut, kann wieder verschoben werden und ist nahezu schmerzfrei. Auch die tieferen Gewebsschichten, Muskulatur und Gelenkanteile entschmerzen; die Patientin gewinnt an Bewegungsraum; die Gehfähigkeit läßt sich bis zu einem Kilometer ausdehnen und gelingt zuletzt auch ohne Absitzen. Die hohe Klopfschmerzhaftigkeit und Steifigkeit der Wirbelsäule, insbesondere der Ileosakralgelenke, ist zu etwa 50% gelöst. Die Patientin kann wieder schlafen und seit 17 Jahren wieder Sonne und kaltes Wasser vertragen. Dauertachykardie, Luftnot, muskuläre und kardiale Insuffizienz sind weitgehend behoben. Die Patientin ist überglücklich und geht mit ihrem Mann sogar tanzen. Vergessen sind alltägliche Qual, oft genug Verzweiflung, die Abhängigkeit von Tranquilizern und Schmerzmitteln.
Ernährungsumstellung zu Hause
1 Jahr hält die Patientin eine frischkostreiche, laktovegetabile Vollwertkost ein, hat Zucker, Fleisch und Wurst von ihrem Speisezettel gestrichen. Ein erneuter Schub mit Iritis, Glaskörpertrübung, Gelenkschmerzen und BSG-Erhöhung von etwa 8 Wochen lehren sie zwei Dinge: 1., Fasten und Einläufe allein vermögen den Schub zu mildern oder zu beenden. Auf Cortison kann verzichtet werden. 2., Vertiefte Ernährungserfahrung: Juckreiz der Haut und anschließend entzündliche Schübe werden ausgelöst durch Camembert, Wurst, Ei, Milch, erhitzte Fette, Erdnüsse und Kuchen. Die Patientin ist motiviert zu einer tierisch-eiweißfreien, sehr rohkostreichen Ernährung mit hohem Frischkornanteil; auch Butter und Sahne werden weggelassen – ähnlich einer strengen Vegan -Kost.
Etappenheilverfahren
In einem zweiten stationären Aufenthalt von 6 Wochen fastet die Patientin 28 Tage und bekommt dann für 11 Tage erweiterte Frischkost ohne tierisches Eiweiß. Sie erlebt zwei leichte fieberhafte Schmerzschübe in den Gelenken, der Wirbelsäule und in der Rückenmuskulatur. Über diese „Fastenkrisen“ kommt es zur fortschreitenden Entschmerzung der Haut, des Bindegewebes und der Muskulatur; subkutane Gelosen werden gezielt behandelt. Das Gewebe ist jetzt verschieblich und praktisch schmerzfrei. Die Patientin kann 2 Kilometer gehen, beginnt zu joggen und spielt 5-10 Minuten Tischtennis (beides seit 17 Jahren undenkbar!). Therapeutische Probleme mach die Spätfolgen der hochdosierten Cortisontherapie: Addisonismus mit gravierenden Erschöpfungszuständen und Osteoporose der Wirbelkörper.
Die Patientin urteilt: „Mein Leben ist wieder lebenswert!“ „Der Weg über langes Fasten und Ernährungsumstellung auf tierisch-eiweißfreie Vollwertkost verlangt zwar Konsequenz und Disziplin; es war aber der einzige Weg, der mir wirklich geholfen hat.“
Schlußbemerkungen
Die Ernährungsabhängigkeit einer chronischen Erkrankung ist schwer zu diagnostizieren. Die Diagnose kann durch Vorerlebnisse des Patienten vermutet, aber erst nach dem Einsatz gestufter Diätetik durch den Erfolg gesichert werden. Für die Kranke wird das Wissen darum, daß sie eine ernährungsabhängige Krankheit hat, erst durch viele leidvolle Erfahrungen und Gegenerfahrungen erhärtet.
Ernährungstherapie ist nicht identisch nur mit Nahrungszufuhr. Die Sorge um die Ausscheidung von Nahrungsresten und ausscheidungspflichtigen Körperstoffen spielt eine große Rolle. Naturheilverfahren dieser Art erfordern nicht nur die Fav stenklinik mit geschultem Fachpersonal, sondern auch die Langzeitführung durch einen diätetisch geschulten Hausarzt und die Kooperation des Patienten einschließlich seiner Familie.
Mit dem Wort INTENSIV-DIÄTETIK fassen wir zusammen:
Fasten
– die strengste Form einer Diätetik: totaler Verzicht auf Nahrung,
jedoch reichlich Trinken von Wasser, Kräutertee, Molke, Saft oder Gemüsebrühe.
Rohkost/Frischkost nach Bircher-Benner
– Zufuhr eines hohen Anteils unzerstörter Pflanzenfermente, Vitamine und Wirkstoffe, niederkalorisch.
F.-X. Mayr-Kur
– mit einem Teefasten als Auftakt und
– der Milch-Semmel-Kur. Hauptmerkmale: Kauschulung und Darmpflege.
Schroth-Kur, gekennzeichnet durch
– Trocken- und Trinktage; etwas Trockengebäck. Schwitzpackungen.
Allen gemeinsam ist der Verzicht, der Verzicht auf die gewohnte Nahrung. Er bewirkt
* eine katabole Stoffwechseleinrichtung: Betonung des Abbaus zugunsten von Ausscheidung und Umbau.
* eine hohe Ausscheidungstendenz des Körpers, gefördert durch Einläufe, Bittersalz, Schwitzpackungen und durch eine hohe Trinkmenge
* immunologische und reparative Abläufe im Gewebe
* begleitet und aktiviert durch Bewegung in sauerstofreicher Luft Verzicht auch auf Genuamittel und entbehrliche Medikamente. Dies bedeutet einen Unterbruch eingefahrener Konsumgewohnheiten bis hin zur Suchtbehandlung. Entscheidendes Element hierfür ist das Gespräch.
Zusammenfassend: Intensiv-Diätetik ist ein
* Eingriff in den Stoffwechsel des Menschen, gleichzeitig ein
* Eingriff in die Chronizität seines Leidens, vor allem aber ein
* Eingriff in seine Verhaltensstruktur und schließlich
* nicht-medikamentöse Basistherapie.
Intensiv-Diätetik sollte nie ohne Ernährungstherapie danach gesehen werden.
Wir bevorzugen die Vollwertkost im Sinne Kollaths/Bircher/Benners, aber auch die strengeren Varianten der Bruker-Kost oder Schnitzer-Intensiv-Kost, teils oder ganz ohne tierische Produkte – z. B. die Vegan-Ernährung; auch die Haysche Trennkost oder die Milde Ableitungsdiät nach Mayr .
„Damit soll man heilen können???“
Ich verstehe die Skepsis der Kollegen, die bisher diätetisch nicht tätig waren.
Literatur
Dienst, C. und R. Gross: Das Reiter-Syndrom, Deutsches Ärzteblatt 27/1982.
Madani, M.: Reitersche Krankheit: Fasten hat mir gehoffen. mobil, 6/1987.
Lützner, H.: Aktive Diätetik des Rheumatischen Formenkreises. Phys. Med. u. Reh. 3/79, 115-118.
Lützner, H.: Aktive Diätetik. Hippokrates-Verlag, 1993, 316 S.
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